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Typo St. Gallen


»Typo St. Gallen«

Typografie-Kongress, Gewerbliches Berufs- und Weiterbildungszentrum St. Gallen, Schweiz, 18.–20. November 2011, ››› www.typo-stgallen.ch

Vorweg: Das war eine sehr fundierte, substanzielle Veranstaltung, perfekt organisiert und durchgeführt. Und es herrschte ein freundliches Klima über die zweieinhalb Tage. Clemens Schedler moderierte mit einem guten Gefühl für das Wesentliche, auch wenn nicht jeder seiner Witze beim Publikum ankam.

Bruno Monguzzi eröffnete die Rednerliste gleich in englischer Sprache. Seine Kernthese erinnerte mich stark an »Schrift ist bildgewordene Sprache« von Otl Aicher. Seine alternativen Typoumsetzungen mit dem Wort »Shit« bleiben genauso in Erinnerung wie seine gespielten Kurzszenen mit »Michelle«.

Ralph Schraivogel zeigte eindringlich, wie er mit analoger Arbeitsweise hervorragende experimentelle Arbeiten entwickelte und diese Weise in das Digitale hinüber rettete. Spezifisch für ihn ist, wie er aus Bild und Schrift ein Miteinander schafft.

Martin Tiefenthaler hat sich den Einsatz und die Verwendung der Versalien vorgeknöpft. Auch das erinnerte mich an Otl Aicher und dessen etwas dogmatische These, warum die Obrigkeit so gerne zum Versalsatz greift. Bei Tiefenthaler, der zeitweise komplett in seine Interpretation der Kirchengeschichte abdriftete, mutete das aber hassgetrieben an. Im Rahmen des sehr intellektuell aufgebauten Vortrags fand ich es unseriös, die Institution Kirche und die NS-Diktatur in direkten Vergleich zu bringen. Dabei hatte Tiefenthaler eine hochinteressante und wichtige Botschaft, die in ein paar anschaulichen Beispielen durchblitzte, wie z.B. dem Unterschied von »DOWN WITH DOGMA« und »down with dogma«. Oder wie wichtig die sprachliche Ausdrucksweise ist: »ich erlaube dir« hat mit den Personen zu tun; bei »Ich gebe Dir die Erlaubnis« hat die »Erlaubnis« nicht direkt etwas mit den Personen zu tun (Das hat dann aber nichts mit Schrift zu tun, sonder mit Sprache, wie später Noordzij aufzeigen wird.).

Jost Hochuli hat in seinem Vortrag über »Die neue Typografie von Jan Tschichold« zugegeben, dass er das Buch erst fünfzig Jahre nachdem er es gekauft hatte, gelesen hat. Ich finde das nicht so schlimm, denn Hochuli hat mit seinem Lebenswerk – quasi ungelesen – Tschicholds Ansichten geteilt: Typografie hat die Funktion, Lesbarkeit zu schaffen und sie orientiert sich am Inhalt. So gesehen, sagt Hochuli, blieb Tschichold trotz aller Änderungen und Entwicklungen bei der Klassik.

Romano Hänni demonstrierte dem Publikum sehr eindringlich, wie investigatives Design funktioniert. Sein im Handsatz erstellter Kalender über den Ablauf der Sandoz-Katastrophe schafft es, einen bestürzenden Inhalt ästhetisch darzustellen.

Jan Middendorp beichtete dem Publikum ebenfalls gleich zu Anfang. Zweifel plage ihn, ob die Typografie Reduktion und Ordnung schaffen solle oder ob nicht doch Typodiversivität interessanter sei. Er hat wohl absichtlich nicht versucht, diese Zweifel aufzulösen.

Gabriele Wilson, die Designerin aus New York, gab für mein Empfinden eine kurzweilige amerikanische Show. Buchtitel auf Buchtitel. Bei genauerem Hinsehen fehlte mir das Miteinander von Schrift und Bild und die mikrotypografische Bearbeitung. Einige Zuhörer fanden aber gerade die vielen Beispiele und deren Stil schön.

Gerrit Noordzij – ja, das kann ich nicht beschreiben. Den muss man erleben. Ein Urgestein, ein Genie, eine interressante und sicher eigenwillige Persönlichkeit stand da auf der Bühne. Ein über Achtzigjähriger, der mit extrem ruhiger Hand mit Kreide auf zwei Tafeln zeichnete – kein Beamer! Und ständig blitzte seine Weisheit hervor. Legasthenie müsste »Wortblindheit« genannt werden. Wir sollten »Sprache«, »Orthografie« und »Schrift« strikt unterscheiden. Beim Schriftskizzieren sei es töricht, beim Umriss anzufangen, statt durch Schraffur die Fläche zu schaffen. Denn der Umriss beendet die Form! Als Noordzij zwei Kartonbuchstaben, ein Versal- und ein Minuskel-B in die Höhe hielt, gerieten seine Ausführungen zum Plädoyer für Versalbuchstaben. Was hat sich Tiefenthaler an diesem Punkt so gedacht?

Paulus Dreibholz fing locker in Englisch an, um dann gnadenlos ins Österreichische und in die Schnelligkeit zu verfallen (ja, das geht). Zudem war der Saal komplett abgedunkelt, da versuchte so mancher erfolglos, den grandios verwissenschaftlichten Theorien hinterher zu hinken. Nachzulesen in seinem Buch »FormenLesen: Ein Plädoyer für bewusste Gestaltung«, ISBN-10: 0955522080, ISBN-13: 978-0955522086.

Tina Roth Eisenberg war der optimale Schlussvortrag für diese Typo St. Gallen. Aufmunternd, aufrüttelnd, unterstützend, unterhaltsam. Erstaunlich, wie sich die Swiss in eine moneymaking Miss verwandelt hat.
››› www.swiss-miss.com

Der Ort St. Gallen ist mit seinen berühmten Bibliotheken prädestiniert für schrifthistorische Vorträge. In der Kantonsbibliothek Vadiana referierten Prof. Dr. Ursula Rautenberg und Dr. Rudolf Gamper, in der Stiftsbibliothek zeigte Dr. Beat von Scarpatetti sehr verständlich und engagiert die Schriftentwicklung im 9. Jahrhundert auf und Silvio Frigg brachte uns den Geist der Bibliothek näher.
››› www.stibi.ch  ››› www.kb.sg.ch

Spätestens hier möchte ich auf zwei Bücher hinweisen, die teilweise das in den schrifthistorischen Vorträgen Angerissene auf’s Beste ausführen.
»Im Weinberg des Textes«, Ivan Illich, Luchterhand Essay, ISBN 3-630-87105-4 und
»Garamonds Lehrmeister«, Anne Cuneo, Knaur Taschenbuchverlag, ISBN-13: 978-3-426-63268-0, ISBN-10: 3-426-63268-3.

Ich freue mich auf die zweite Typo St. Gallen 2012. Dann soll es auch Diskussionsmöglichkeiten im Anhang an die Vorträge geben. Und wenn Organisation und Verpflegung wieder so gut werden, …

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29.11.2011